Samstag, 5. April 2014

Tag 9: Meine persönliche Wälchli-Saga

Wie gestern angekündigt, bin ich heute in Zofingen. Ich führe gemeinsam mit vielen Akteuren das Memento für Alfred Wälchli durch.

Weil ich heute voll und ganz damit beschäftigt bin, will ich hier erzählen, wie ich ihn kennen gelernt habe:
Den tollen Flyer hat Corina Girell di Giovanoel gestaltet
Alfred Wälchli hat mich 1996 am Stammtisch im Goldenen Ochsen in Zofingen das erste Mal angesprochen. In seiner bekannt ruppigen Art wollte er von mir wissen, ob ich derjenige sei, der einen Förderpreis vom Kuratorium erhalten habe. Sofort gab er sich mir als Literat und Komponist zu erkennen und es entwickelte sich ein intensives Gespräch über Literatur und Kunst. In der Folge entwickelte sich daraus eine rund achtjährige Freundschaft bis zu seinem Tode am 6. Januar 2004. Das Memento zehn Jahre später feiern wir an seinem Geburtstag! Soweit die Tatsachen.

Was ich hingegen nur vermute -und eben nicht mehr beweisen kann, ist der Umstand, dass ich vermutlich anfangs 80iger-Jahre eine musikalische Arbeit Alfred Wälchlis spätnachts am Radio gehört habe, die mich schwer beeindruckte: 'Das Schollern der Autohupen'. Den Namen des Komponisten habe ich entweder damals nicht gehört oder mir nicht gemerkt, auf jeden Fall hat mich dieses Audioerlebnis zu einem Text inspiriert, in dem eine Ich-Person im Zug von Langenthal nach Burgdorf einer verschrobenen Figur mit Hörrohr begegnet, mit dieser ins Gespräch kommt und herausfindet, dass derselbe Komponist ist und sich zum Ziel gesetzt hat, das gesamte SBB-Netz in Form einer grossen Oper zu vertonen. Zu diesem Zwecke fuhr er alle Strecken ab und erhorchte ihre musikalischen Strukturen mittels des Hörrohres. Das Drama spitzte sich darin zu, dass der Komponist schwer krank ist und er eben diese Strecke Langenthal-Burgdorf nicht kompositorisch einzuordnen weiss, weil sie jedes Mal anders klinge:
"Ja, heute fahre ich die Strecke Langenthal - Burgdorf zum dreiundsiebzigsten Male ab. Sie ist die einzige, die mir noch umzusetzen bleibt. Sie hat mir ihr Geheimnis bis jetzt verschlossen. Sie wandelt sich immerzu, ist nie gleich, nur selten ähnlich. Ich finde den Weg nicht, wie an sie heranzugehen ist. Oft scheint sie dahinzufliegen, unmerklich, dann kriecht sie wieder wie der ärgste Wurm. Auch lag sie schon tot wie ein Skelett. Mehrere Male glaubte ich ihren Typus erkannt zu haben, doch immer tauchten auf den letzten Kilometern wieder unerklärliche Misstöne auf. Ganze Akkorde und Tonfolgen wurden mir wieder zerstört, so dass die ganze Fahrt vergebens gewesen war. Ich versuche es mit genauen Protokollen, schreibe zu Hause jeden Eindruck auf, jede Missstimmung erfasse ich, jedes Holpern, jegliches kurze Bremsen, selbst das Geräusch der naheliegenden Autobahn registriere ich in Parallelprotokollen.
Die Daten verfüttere ich regelmässig meinem Computer, den ich eigens für diesen Zweck konstruieren liess, was meine ganze Altersversorgung verschlang.
Ich muss durch statistische Auswertung des Gemeinsamen das Absolute dieser Strecke heraustüfteln und in Musik umsetzen. Leider bleibt mir nur noch wenig Zeit. Meine Leber ist vom Rotwein entkräftet und das Herz schlägt schwächer denn je.
Manchmal nahe am Verzweifeln rettet mich die nahezu göttliche Gewssheit, dass ich es schaffen muss, und dass ich es schaffen werde.
Es wird der unwiederbringliche Höhepunkt meines Lebens, an der Uraufführung meines Werkes von den Lobeshymnen und Applausorkanen geschüttelt zu werden.
Es wird mir eine Ehre sein, das heisst, es würde mich ausserordentlich freuen, Sie anlässlich dieser Uraufführung begrüssen zu dürfen. Hoffentlich habe ich Sie nicht gelangweilt mit meinen Ausführungen. Ich empfehle mich."

Ich vermute, dass ich dann zwischen 1984 und 1986, als ich am BZZ (Bildungszentrum Zofingen) die HPL (Höhere Pädagogische Lehranstalt, war der Vorläufer der FHNW, die mich jetzt zu diesem Projekt umtreibt) besuchte, Alfred Wälchli durch eins der schräggestellten Fenster, die halb im Boden versenkt waren, wahrgenommen haben muss, wie er einem Kantischüler die hohe Kunst des Klavierspiels zu vermitteln versuchte, vielleicht hat er auch nur gehustet, geflucht und über das miserable Spiel desarmen Schülers tiradisiert.
Ebenso weiss ich nicht mehr genau, ob ich ein Konzert mit Werken Alfred Wälchlis besucht habe, ehe ich ihn kannte oder erst kurz nach unserer Begegnung. Sicher ist nur, dass er mir von den Zofingern bis zur persönlichen Bekanntschaft immer nur als verschrobener Kauz und seltsamer Künstler mit einem noch seltsameren Werk beschrieben wurde, sich dieses Bild allerdings durch unsere Freundschaft veränderte.

Zurück zu den Tatsachen: Dieser Text über den Komponisten hat mich jahrzehntelang begleitet: so wurde er öfters an Jenseits der Ordnung-Konzerten (meine erste Band) von Schauspielern interpretiert und fand Eingang in mein Buch 'Abgang, Fertig, Aus'.

Der Text diente dann auch als Ausgangspunkt zu einer Zusammenarbeit mit Alfred Wälchli, anlässlich von Endgame, einer schweizweiten Aktion zum Unseco-Jahre der älteren Menschen anno 1999: wir beiden spielten diese fiktive Begegnung live auf der Holzbrücke in Olten mit einem ergänzenden Text von Alfred Wälchli, in dem dieser einige Fragen der Ich-Person (in deiesem Falle mir) beantwortete. Einer der wenigen Texte Alfred Wälchlis, die in normaler deutscher Hochsprache geschrieben sind, sonst bedient er sich seines eigenen Sprachlabyrinths.
Weiter hat mir Alfred erzählt, wie er die Komposition 'Das Schollern der Autohupen' umsetzte: als Sampling-Pionier hatte er Tonbänder zur Verfügung, die er auseinanderschnitt und mit Wäscheklammern an gespannten Schnüren in seinem Atelierraum aufhängte, von wo er sie wieder einsammelte, neu arrangierte und zusammen klebte.
Und last but not least diente sie mir auch für die Geburtstagsrede, die ich an der offiziellen Feier zum 80igsten Geburtstag von Alfred Wälchli halten durfte.

Das Drama des unverstandenen und unbeachteten Künstlers berührt mich bis heute und ich habe es in Alfred Wälchli wieder erkannt: sein letzter grosser Wunsch war die Vollendung seiner grossen literarischen Arbeit, ob sie unvollendet blieb oder nicht, ist noch unklar. Leider wissen wir trotz  diesem Memento-Prozess immer noch nicht, wo seine Schreibmaschine heute ist, diese verschwand nämlich nach seinem Tode aus dem Spital.

In vielem wird mir Alfred Wälchli ein Vorbild bleiben, insbesondere im unerschütterliche Glauben an das eigene Werk!

p.s. das Memento verlief sehr erfolgreich. Ich hoffe, Alfred hätte auch seine Freude daran gehabt!

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